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solveig, ein jahr

frei nach Ibsen
Jugendhilfeeinrichtung Solveigs Hof
Osnabrück
2004


Mit »solveig, ein jahr«, wurde die zweite Jugend-Theater-Produktion zu Ibsens Peer-Gynt-Stoff am Solveigs Hof Rulle auf die Bühne gehoben.



Solveig ist eine Jugendliche in einer Außenposition unter den Gleichaltrigen ihres Viertels. Als neu Hinzugezogene findet sie in dem verschrobenen Draufgänger Peer einen Gleichgesinnten, den sie zunächst bewundert und seiner Art wegen zugeneigt ist.
Als ihr mehr und mehr klar wird, wie wenig er zu menschlicher Verbindlichkeit fähig ist, beschließt sie ihn freundschaftlich zu stützen, ohne jedoch den Fehler zu machen, eine Beziehung mit ihm einzugehen.
In ihrem Tagebuch dokumentiert sie aus ihrer Sicht das Scheitern eines Jugendlichen auf der Suche nach sich selbst und findet in Gesprächen mit durch Peer verletzten Altersgenossen zu Freunden und einer klaren Einstellung zu ihrem eigenen Leben.
Peer, der sich nichts mehr wünscht, als eine feste Beziehung mit ihr, bietet sie am Ende ihre verbindliche Freundschaft an, und in der Weise wie sie es tut, die Chance, sich in den Griff zu bekommen.




Hintergründe unserer Arbeit an »solveig, ein jahr«
(Der Text ist ein Auszug aus »Bolzen mit der Seele« – siehe Werkstattgespräche)

In »solveig, ein jahr« geht es um die Wartende. Für einen Jugendlichen ist es natürlich unvorstellbar, dass eine Frau vierzig Jahre auf einen Mann warten würde. Und auch Ibsen selbst persifliert hier ein Treue-Idealbild seiner Zeit. »solveig, ein jahr« zeigt Solveig als Teenie, die durch das Warten auf Peer, seine Versprechungen und Vertrauensbrüche, seinen Charakter erkennt und durch die Auseinandersetzung mit ihm – sich selbst. Sie trifft all diejenigen, die Peer Gynt in seiner egoistischen Art verletzt, gebrochen, zurückgelassen hat, um ihm am Ende eine Freundschaft, nicht aber eine partnerschaftliche Verbindung anbieten zu können. In »solveig, ein jahr« wird die Kunstform und der in Peer Gynt beschriebene Treue-Ideal-Wunsch in seiner Absurdität in die Real-Welt des Jugendlichenalltags übersetzt. Im probenbegleitenden Gespräch geht es um Erahnen und Skizzieren von Lebensperspektiven (-entwürfen) der Jugendlichen, nicht darum, eine grandiose Aufführung auf die Bühne zu stellen. Wie gesagt besteht so auch die Hälfte der theaterpädagogischen Arbeit vor allem aus Zuhören und Ausdiskutieren von Schul- und Beziehungsproblemen.
In diesem Rahmen entstehen dann unvergessliche Situationen, die sich erst später als nette Anekdoten genießen lassen. So probten beispielsweise die Darstellerin von Solveig und der Darsteller von Peer die reumütige Rückkehr des Helden zu der am Warten erblindeten Solveig. Sie machten es gut, aber sie weigerten sich, die Szene gemeinsam zu proben, da sie früher als Paar zusammen waren. „Ich kann dem doch nicht verzeihen!“ protestiert sie. Und er: „Ich werd mich bestimmt nicht bei der entschuldigen und ihr den Kopf in den Schoß legen“. Das erklären mir die Hauptdarsteller, und es ist nicht mehr ganz klar, auf welcher Ebene ich diesen Konflikt mit ihnen lösen soll. Hier zählen einzig die Grenzen und hier zählt in der Arbeit die Überwindung der Grenzen – spielerisch. Ebenso musste der Darsteller von Peer Gynt an einer anderen Stelle als Schiffbrüchiger einen Mitspieler von der rettenden Planke stoßen, der ihn seiner Frau und Kinder wegen um sein Leben anbettelt. Peer ertränkt ihn. Und da wir in dieser Inszenierung auch ein paar Mitarbeiter untergebracht hatten, wurde diese Rolle des Ertrinkenden ausgerechnet vom Leiter der Einrichtung gespielt, mit dem sich der „private Peer“ zu dieser Zeit heftige Kämpfe lieferte. Jetzt aber, in der Spielsituation, erklärte er mir fast unter Tränen: „Ich kann das nicht spielen!“
Hier geht es um Lösungen, die eben immer weit über das Stück hinausreichen. So ist es ja auch gemeint. Und es geht hier um eine sorgfältige Vorbereitung der Proben, die es darauf anlegt, immer wieder an solche Punkte zu führen. Die Improvisation im Vorfeld zu den Proben hat deshalb vor allem auch das Ziel, die Jugendlichen so weit kennenzulernen, dass man ihnen gewissenhaft Rollen vorschlagen kann, die mit ihnen als Einzelmenschen zu tun haben. So hat sich über die Jahre auch als sinnig herausgestellt, den Text an sich erstmal zweitrangig zu behandeln. Ich schrieb ihn während der Proben auf die Jugendlichen zu, entnahm ihrer gespielten oder improvisierten Auseinandersetzung das, was wir auf der Bühne für die Rolle brauchten. Nicht zuvorderst um einen glänzenden Darsteller für eine umjubelte öffentliche Aufführung gewinnen zu können, sondern besonders deshalb, weil ich ahnte, dass eine bestimmte Situation im Stück die betreffenden Jugendlichen an Auseinandersetzungen heranführte, die ihnen nützen könnten. Diese Schritte sind sehr schwierig und sehr, sehr verantwortungsvoll zu behandeln und sicher unterlaufen immer wieder auch Fehler aus Unkenntnis der einem anvertrauten Jugendlichen. Aber das darf und muss auch so sein. Es verpflichtet den Anleitenden unbedingt dazu, sich auch in seiner Fehlbarkeit zu zeigen und sich erkennen zu lassen, um Erfolg und Scheitern als gleichberechtigten Dialog deutlich werden zu lassen. Denn auch der Anleitende arbeitet noch an seiner Biographie. Auch wenn er mehr über die handwerkliche Hilfe und Fragestellung weiß. Er bleibt doch mit den Jugendlichen zusammen immer Suchender nach einer Ahnung von einem Ziel, mit dem alle Teilnehmenden zur Zusammenarbeit angetreten sind.




INTERVIEW

Herr Thon, Sie haben als Schauspieler, Regisseur und Autor die letzten achtzehn Jahre die unterschiedlichsten Projekte im staatlichen Theaterbetrieb und der Freien Szene durchgeführt. Ihre Auftraggeber waren Bundesländer oder Pfadfindergruppen. In verschiedenen Musical-Projekten haben sie mit dem Liedermacher Konstantin Wecker und Christian Berg versucht Wege zu finden, Kindern neu Geschichten zu erzählen. Letztes Jahr eröffnete in Berlin die Bertelsmann-Dependance mit einem großen Event unter ihrer Regie. Was führt einen Regisseur von Berlin augerechnet nach Rulle in ein Projekt an eine Jugendhilfeeinrichtung?

Der Kontakt zum Solveigs Hof kam auf einem Workshop zustande, den ich vor drei Jahren in Lübeck gab. Dort nahm der Leiter der Einrichtung teil und fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, ein Theater-Projekt bei ihnen durchzuführen. Ich sehe eine solche Arbeit immer als große Chance etwas auszuprobieren, was ich dann wieder in andere Projekte mit einfließen lassen kann. Zudem wollte ich schon immer den Gynt inszenieren, aber eben ganz neu, ganz anders. Als ich dann zum Solveigs Hof kam – das werd ich nie vergessen – fragte ich nach der Bühne. Aber ich stand schon dort: in der Tenne eines alten Bauernhofes. Meine Bühnenentwürfe konnte ich schon mal vergessen und die Beleuchtung steuerten wir später über den Sicherungskasten. Was ich sagen will ist, das hier kein großer Aperat hilft wie im Stadttheater, sondern nur noch Phantasie. Und das ist natürlich genauso mit dem Ensemble. Nicht nur, dass man mit Non-Professionals arbeitet, sondern Mernschen mit den unterschiedlichsten Biographien gegenübersteht, die ihnen auch sehr unterschiedlich erlauben, die Arbeit zu stützen und mit zu gestalten. Das ist eine riesen Herausforderung.

Hat die Jugendlichen denn der Ibsen-Text wirklich interessiert, oder haben Sie ihn mit der Einrichtung einfach vorgeschlagen und gesagt: den machen wir jetzt einfach.

Nein natürlich nicht. Das geht in solchen Zusammenhängen gar nicht. Die Theaterarbeit gehört zum Freizeitangebot der Jugendlichen, ist also freiwillig. Wenn ich da keine griffigen Argumente und keine Form habe, die die wollen, dann steh ich am Ende alleine da. Deshalb habe ich auch nicht den Originaltext genommen, sondern etwa zwanzig Situationen des Urstoffes versucht ins Heute zu adaptieren. Wie wäre Peer heute? Was wären jetzt seine Probleme? Wie würde er sie meistern? Und so weiter. Und im Gespräch mit den Jugendlichen habe ich meinen Text dann immer wieder überprüft.

Sie haben den Text also extra für die Einrichtung geschrieben?

Ja. Das ist auch nur so sinnvoll. Ich muss zunächst schauen, wo steht der einzelne Jugendliche, wie kann er sich mit dem Stoff verbinden; was reizt ihn aus seiner eigenen Biographie heraus zur Auseinandersetzung und wie will er sie umsetzen. Und dann schreib ich den Text auf jeden einzelnen zu. Die Jugendlichen sagen mir dann schon: "das würde ich nie so sagen". Dann wird der Text eben wieder geändert, bis er für mich und das Ensemble stimmig ist.

Das heißt, das Stück lief mehr oder minder komplett aus einer Hand. Sie haben den Text geschrieben …

… die Regie besorgt, das Bühnenbild und die Figuren gebaut, die Kostüme ausgesucht, die Plakate entworfen, kopiert, aufgehängt und die Öffentlichkeitsarbeit gemacht. Aber das meine ich ja gerade: am Theater ist man komplett von den anderen Bereichen abgeschnitten. Da macht man seinen Job als Schauspieler oder Regisseur und fertig. Hier darf man alles machen und die Aufführung ist dann im Grunde nur noch das Sahnehäubchen am Ende.

Was wollen Sie vor allem den jungen Menschen mit so einem Projekt mitgeben, was steht für Sie an erster Stelle?

Zunächst der Umgang mit Sprache und Literatur, zu zeigen, dass das verdammt spannend sein kann. Ich werde den Eindruck nicht los, dass wir immer mehr in einer Welt zu leben beginnen, die mit Sprachhülsen kommuniziert. Das heißt, wir bilden unsere Urteile an Unerlebtem und begründen vieles mit Halbwissen. Ich will, dass die Jugendlichen wissen, erleben, was sie da auf der Bühne sprechen. Sie sollen wissen, dass sich ein Mensch gezwungen fühlt, aus seiner Biographie heraus so einen Text wie den Gynt zu schreiben. Diesem Impuls sollen sie folgen können, in dem sie sagen: ich muss das spielen aus dem heraus, was ich selbst erlebt habe. Und dann ist das eine Auseinandersetzung, die sehr tief geht, total an Grenzen führt. Aber wenn man die erstmal in so einer Arbeit überwunden hat, dann geht man auch anders weiter, auch lange nach dem Stück und mit einem anderen Selbstbewusstsein. Da soll es ja auch hinaus: die Jugendlichen zu (re)integrieren und zu verselbständigen. Die Theaterarbeit bietet da zweifellos gute Ansätze in der Begleitung dieses Abschnittes.

Ich wünsche Ihnen und dem Ensemble viel Glück und Erfolg für die Uraufführung!

(Das Interview führte Ute Werler, Berlin)


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